
Anfang 2024 habe ich an einem Online-Seminar zum Thema “Trauer und Spiritualität” bei Ruthmarijke Smeding, einer Erziehungswissenschaftlerin und Hospizbegleiterin teilgenommen. Mein eigenes Leben ist durchzogen von diesen Themen und so war ich neugierig und offen, was diese sehr erfahrene Frau mir zu den beiden Themen vermitteln kann. Was ich selbst bereits beobachtet hatte, deckt sich mit einer ihrer Annahmen, dass der Trauerweg eine der größten Herausforderungen des Lebens ist. War das früher anders oder besser? Ich habe einige sehr interessante Ansätze dazu gewinnen dürfen, zum Beispiel, dass sich Spiritualität und Religiosität, die früher überwiegend von den großen Religionen geprägt und auch vorgegeben waren, heute zu einer Art Individualisierung der Religiosität verändern. Transzendenz gewinnt in Todesnähe an Bedeutung, unabhängig davon, ob ein Mensch sich während seiner Lebenszeit für das Mysterium, das Große Geheimnis des Lebens interessiert hat oder nicht. Vermutlich wohnt in jedem Menschen eine Art religiöser Aspekt, der unter Umständen niemals aktiviert wurde, sich aber in Zeiten der Todesnähe Raum verschafft, um ebenfalls erlebt, erfahren und integriert zu werden.
Warum schreibe ich darüber? Weil es genau dem entspricht, was ich nennen würde: “Das fehlt uns Menschen heute”. In der östlichen Spiritualität entwickeln Menschen ein ganz anderes, zum Teil viel entspannteres Verhältnis zum Tod, sie geben ihm schon zu Lebzeiten einen Platz. In unserer westlichen Welt ist der Tod noch immer eher ein Tabuthema. Auch wenn die Hospizbewegung hier viel dazu beiträgt, dass wir wieder Worte für die Themen Sterben, Tod und Trauer finden und auch aussprechen können. Allerdings widmet sich die Hospizbewegung den Menschen, deren Tod absehbar ist oder auch den Angehörigen, die mit einem Verlust umgehen müssen. Selbst wenn mittlerweile das Thema in manchen Schulen vorsorglich behandelt wird, bleibt es doch in dem versteckten Winkel der Gesellschaft, den man nur betritt, wenn es gar nicht mehr anders geht.
War das früher wirklich besser?
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass in meinem eigenen kleinen Kinderleben unfassbar viele Menschen einfach so weggestorben sind. Menschen, die mir etwas bedeutet haben. Menschen, mit denen ich in der gleichen Grundschulklasse saß, waren auf einmal nicht mehr da. Mein Lieblingsmensch, der so plötzlich und tragisch verstarb. Verwandte, Bekannte, oft noch jung. Ich weiß auch, dass ich damals keinen hilfreichen Weg für mich finden konnte, mit diesem plötzlichen “nicht mehr Dasein“ umgehen zu können. Das, was mir die Kirche anbieten konnte, nämlich dass es ein Wiedersehen im Himmel geben wird, hat mich nicht erreicht. Ich war für diese Art des Trostes überhaupt nicht empfänglich. Mittlerweile, nach über 6 Jahrzehnten hier auf der Erde, habe ich viele viele Zusammenhänge begreifen gelernt. Ich weiß mittlerweile, dass ein nicht verarbeiteter Verlust ein Trauma bedeuten kann, welches sich in den eigenen Lebensteppich einwebt und alle weiteren Erfahrungen, die im Leben gemacht werden, mitprägt. Ich weiß auch, dass nicht jede Familie mit dem Thema Tod und Trauer gut umgehen kann und dass sogar ganze Gesellschaften, Völker, oftmals nicht ausreichende Bewältigungsstrategien entwickelt haben.
Anfang der 2000er Jahre begegnete mir das Thema Tod und Verlust innerhalb meines Familiensystems noch einmal mehrfach auf sehr sehr schmerzhafte Weise. Um das Ganze überhaupt bewältigen zu können, habe ich mich der örtlichen Hospizgruppe angeschlossen und eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin gemacht. Das ist meine Art, zu lernen und auch, Dinge näher an mich heran zu lassen. Erstmal muss ich ganz ganz viel zu einem Thema wissen, es von allen Seiten betrachten, mich im Geiste damit auseinandersetzen, bevor ich es dann tiefer sacken lasse, bis hin zu meinem “eigenen Eingemachten”, um dann die ebenfalls betroffene Ebene der Gefühle zu bewältigen. Die Ausbildung zur Sterbebegleiterin, später zur Trauerbegleiterin, hat etwas in mir zum Schwingen gebracht, was ein Teil meines Wesens ist. Ich glaube tief und fest daran, dass wir Menschen, wie Alles Andere in der Natur, dem Kreislauf des Werdens und Vergehens unterliegen. Und dass wir das irgendwann irgendwo vergessen haben. Und/oder nicht mehr wahr-haben wollen. Und doch nicht daran vorbeikommen. Mich persönlich hat das Annehmen meiner eigenen Sterblichkeit, das Wissen um die Prozesse im Sterben, mit dem Schicksal sehr versöhnt. Es ist nicht so, dass ich jetzt keinen Schmerz und keine Trauer mehr empfinde im Angesicht des Verlusts eines für mich wichtigen Menschen oder auch eines geliebten Haustieres. Eher ist es so, dass ich heute wirklich trauern kann. Wirklich und echt trauern. Trauer ist die gesunde Antwort auf einen Verlust. Diese kraftvolle Aussage stand gleich zu Beginn meiner Ausbildung zur PalliativCarekraft. Hier wird endlich mal die Trauer als etwas Normales, ja sogar zutiefst menschliches bezeichnet. Ist es nicht tröstlich, zu wissen, dass das Leben uns zu jeder Erfahrung auch einen Weg schenkt, damit umzugehen? Für mich ist das einer der wichtigen Sätze, in einer Welt, in der mittlerweile Trauer, genau wie viele andere natürliche Antworten auf Lebenskrisen, pathologisiert werden und dadurch Menschen den Stempel “krank” aufgedrückt bekommen. Anstatt ihnen den Raum, die Zeit, die Zuwendung zu schenken, die sie brauchen, um den Verlust in der Gänze zu durchleben, um sich danach neu und verändert wieder dem Leben zuwenden zu können.
Dahinter versteckt sich noch viel mehr
Auf meiner persönlichen Forschungsreise zum Thema Umgang mit Trauer habe ich auch viel über mein eigenes Familiensystem erfahren. So wusste ich ab einem bestimmten Zeitpunkt, dass meine Mutter und ihre ganze Familie sogenannte Heimatvertriebene sind. Die großen Zusammenhänge und ihre Auswirkungen auf mein eigenes Leben interessierten mich so sehr, dass ich mich durch jede Menge an Literatur zum Thema Kriegskinder, Kriegsenkel durchlas, an verschiedenen Onlinekongressen zum Thema teilnahm und mich immer tiefer in das Thema Transgenerationales Trauma hinein arbeitete. Vieles, was ich selbst erlebt hatte und nie wirklich verstehen konnte, meine subtilen Ängste, meine Todessehnsucht, die inneren Bilder, die mich plötzlich erreichten und mich fragend und unsicher werden ließen. All das fand ich in unzähligen Beschreibungen anderer Betroffener wieder. Mein nie müde werdender, wissensdurstiger Geist freute sich an all den vielen Informationen, die ein immer komplexeres Bild in mir entstehen ließen. So zum Beispiel, dass Alles, was ich heute hier erlebe, geprägt ist und gespeist wird aus den Erfahrungen meines Familiensystems und natürlich aus der Zeitqualität, in der meine Eltern und Großeltern ihre eigenen Erfahrungen machen durften oder mussten. Aus den nicht verarbeiteten Erlebnissen meiner Eltern und Großeltern. Mittlerweile habe ich ein sehr aussagekräftiges Bild in mir entwickelt, wie das, was meine und auch alle anderen Vorfahren erlebt haben, sich auf das HEUTE auswirkt. Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass früher nicht Alles besser war, es war nur anders.
Vom seelenlosen zum beseelten Leben
Schon als junge Frau habe ich Vieles in Frage gestellt. Vor allem, wenn mir jemand sagen wollte, wie ich zu denken oder zu fühlen hätte oder was richtig oder falsch ist. Oder wenn mir jemand erklären wollte, wie Leben eben ist. Der Teil in mir, der beobachtet, wusste relativ früh, dass wirklich jede Generation ihre eigenen Erfahrungen machen muss, genauso wie sie ihre eigenen Herausforderungen und Lernaufgaben hat. So erfuhren meine Großeltern, alle um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geboren, Themen wie Krieg, Armut, schwere körperliche Arbeit, überschaubarer Lebensraum, Sterblichkeit von Kindern, Gewalt im häuslichen Umfeld als Form der damals noch sehr unbeholfenen Kommunikation. Meine Eltern dagegen, geboren in den 30ern, waren mit Krieg, Vertreibung, Präsenz von Truppen in den Orten, Angst, Fremdheit, Verlust auf vielen Ebenen aufgewachsen, bevor sie als Erwachsene dann die schöne Aufgabe des Wiederaufbaus, der Neugestaltung ihres Lebensraumes angehen konnten. In eben diese Zeit wurde ich hineingeboren, eine Zeit, in der kinderreiche Familien zum Alltagsbild gehörten und nett und adrett sein, brav, angepasst und unauffällig sein, dem Bild einer heilen Welt voller glücklicher Familien entsprach.
Aus meiner Sicht hat die Generation meiner Eltern das Außen aufräumen müssen, während wir, die wir noch zu den Babyboomern gehören, uns langsam aber sicher auf den Weg machen mussten, im Inneren aufzuräumen. Ich sehe mich unterwegs in einer Welle von Menschen, deren Ehen nicht mehr einfach so bis zum manchmal bitteren Ende am Leben gehalten werden können. Beziehungsthemen nehmen immer mehr Raum ein, das Außen war in gewisser Weise sicher, da verschob sich der Fokus und die Grenzen im Miteinander wurden plötzlich deutlich sichtbar. Zu den Beziehungskrisen kamen psychische Erkrankungen. Obwohl wir auf den ersten Blick DIE Generation waren, die ALLES HATTE, fehlt es uns offensichtlich an etwas anderem, etwas, was man mit Geld und Fleiß und viel Arbeit nicht erreichen kann. Der Höhepunkt dieser Krise ist noch nicht erreicht, der Wandel ging viel zu schnell, Wesentliches konnte nicht erfahren, erfasst und integriert werden. Mittlerweile gibt es schon weitere nachfolgende Generationen, die ebenfalls ihre eigenen Herausforderungen meistern müssen. Vielleicht geht es jetzt, bei den jüngeren Menschen, darum, aus einem Leben in Überfluss, voller Möglichkeiten, Angeboten, voller Informationen, mit der Herausforderung KI, genau das zu wählen, was für den eigenen Körper, die eigene Seele noch bekömmlich und verdaulich ist. Nein sagen zu lernen. Zu lernen, wie man das Viele unter einen Hut bekommt. Wie man die eigene Lebensqualität durch guten Umgang mit den vorhandenen inneren und äußeren Ressourcen beeinflussen und auch positiv verändern kann.
Es ist nicht wichtig, ob es besser war
Für mich ist es überhaupt nicht wichtig, ob es früher besser oder schlechter war. Für mich zählt, dass ich hier und heute und JETZT mein Leben sinnvoll gestalte, innerhalb des Rahmens, der gegeben ist. Dass ich mich mit Leib und Seele auf genau DAS einlasse, was das Leben mir präsentiert. Dass ich meine eigenen Erfahrungen nicht losgelöst von Allem, sondern eingebunden in einen Kontext aus familiärem, gesellschaftlichem und auch spirituellem Wandel betrachte. Und mich immer wieder frage, was ich Alice tun kann, um die Welt lebenswerter und liebevoller sein zu lassen.
Dass ich Allem, was IST, Raum in mir gebe. Dass ich aus der Vielfalt der Ideen über das Leben meine eigene Haltung generiere und allem genau den Sinn gebe, der für mich stimmig ist. Dass ich mich als Teil einer langen Reihe von Menschen sehe, die alle, jeder auf seine Weise, die Zukunft mitgestalten und dadurch unseren Kindern und Enkelkindern etwas hinterlassen, was trägt oder auch nicht. Ich möchte mich wieder verbinden mit dem tiefen Wissen um die natürlichen Kreisläufe, die für meine Vorfahren bekannt und vertraut waren und in die sie sich mit Herz und ganz viel Weisheit einzuordnen gelernt hatten. Ich möchte meinen gefühlten Auftrag, im Inneren aufzuräumen, als Geschenk sehen, das ich übernommen habe von denen, die vor mir waren und das ich auch an diejenigen weiterreichen möchte, die nach mir kommen. Ich möchte erInnern, dass wir einerseits Menschen aus Fleisch und Blut sind, die sterblich, endlich, begrenzt sind und gleichzeitig eine unsterbliche Seele in uns beherbergen. Dass wir besser leben können, wenn wir beide Aspekte ernst nehmen und würdigen. Dass es nicht besser oder schlechter sein muss, als es früher war oder später sein wird, sondern genau so intensiv und wahrhaftig, wie es eben JETZT im Moment möglich ist. Dass erst das Anerkennen des Todes die Erfahrung echten erfüllten Lebens möglich macht. Denn ohne den Tod wüssten wir vielleicht nicht einmal, dass wir leben. Und das wäre wirklich schade, oder?